Im vergangenen Jahr saß ich in einem Flixbus von München nach Stuttgart neben einer 86-jährigen Dame. Es schien, als würden wir uns auf den ersten Blick sehr sympathisch finden, und wir begannen sofort ein Gespräch. Obwohl diese Dame deutlich älter ist als ich, entdeckten wir erstaunliche Gemeinsamkeiten in unseren Lebensläufen. Beide hatten wir die Erfahrungen gemacht, im Ausland zu leben und teilten eine tiefe Liebe zum Meer. In diesem Moment teilten wir auch die Sehnsucht nach den Wellen des Ozeans.

Während unserer Unterhaltung sprachen wir über Kunst und Kultur, und sie erzählte mir begeistert von ihrem Vorhaben, ihr erstes eigenes Buch zu veröffentlichen – ein Gedichtband über die Jahreszeiten, den sie selbst illustrieren wollte. Dieses Gespräch berührte mich zutiefst. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie inspirierend ich das fand.

Wie wunderbar ist es, mit 86 Jahren noch etwas zum ersten Mal zu erleben! Den Mut zu haben, sich so zu zeigen und zu sich zu stehen! Diese Begegnung hat mich dazu inspiriert, darüber nachzudenken, wie wichtig es ist, im Laufe unseres Lebens offen für neue Erfahrungen und Abenteuer zu bleiben. Es zeigt, dass es nie zu spät ist, seine Leidenschaften zu verfolgen und sich selbst treu zu bleiben. Manchmal sind es gerade die unerwarteten Begegnungen, die uns die schönsten Lektionen des Lebens lehren.

Es scheint, dass in jeder Generation imaginäre Meilensteine gesetzt werden, die man in einem bestimmten Alter erreichen soll. In meiner Generation war es der Gedanke, dass wir bis zum 30. Lebensjahr unser Leben “im Griff” haben sollten – sprich, einen Partner, einen stabilen Job und finanzielle Sicherheit erreicht haben oder idealerweise bereits eine Familie gegründet und ein Haus erworben haben. Auf die Gründe, warum das meiner Meinung nach so ist, will ich an dieser Stelle nicht eingehen.

Ich höre viel lieber Geschichten von Menschen, die sich erst mit 40 Jahren zum ersten Mal verlieben. Die mit 70 ein Studium absolvieren (genug Wartesemester hat man dann sicherlich!). Geschichten von Menschen, die sich mit 50 Jahren endlich trauen, ihre Passion zum Beruf zu machen. Was ist mit denen, die mit 60 Jahren zum ersten Mal ins Ausland reisen? Oder eben mit 86 Jahren ein Buch zu publizieren.

Das Leben ist nur kurz, wenn wir versuchen, es bereits in den ersten beiden Jahrzehnten fest zu planen. Mit 30 müssen wir noch lange nicht unser Ziel erreicht haben. Das Leben ist lang, wenn wir uns erlauben, uns auch mal zu verlieren, uns in alle Richtungen umzusehen und unsere Meinung zu ändern. Das Ankommen ist eine Illusion; alles befindet sich ständig im Wandel. Es gibt genug Zeit für alles, nur vielleicht nicht alles gleichzeitig.

Die Welt soll mich in Ruhe lassen mit diesem Druck und einem Rennen gegen die Zeit. Das fühlt sich an, als ob mir jemand einen Wecker auf die falsche Uhrzeit gestellt hat, und der Weckton passt ja mal so gar nicht zu mir. Es passiert so schnell, dass wir uns mit anderen Geschichten vergleichen, Lebensmodelle leben, die nicht zu uns passen. Genauso schnell neigen wir dazu, zu glauben, etwas zu wollen, was in Wirklichkeit nicht zu uns passt. Doch ebenso rasch nehmen wir uns nicht die Zeit, in uns hineinzuhören und herauszufinden, was wir wirklich brauchen. Da diese Bedürfnisse so individuell sind, macht es einfach keinen Sinn, sich mit anderen zu vergleichen.

Ich freue mich schon sehr darauf, euch nächste Woche ein neues Programm vorzustellen, an dem ich in den letzten Monaten intensiv gearbeitet habe. Aber bis dahin habe ich ein paar Fragen zum Reflektieren für euch:

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